Donnerstag, 9. März 2017




EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei

Ankara macht ausländische Hilfsorganisation dicht


Die amerikanische Organisation Mercy Corps darf nicht mehr in der Türkei arbeiten. Damit verlieren Hunderttausende von Syrern lebenswichtige Hilfe. Diese wird auch mit EU-Geldern finanziert.
Die türkische Regierung hat der Hilfsorganisation Mercy Corps die Registrierung entzogen. Faktisch bedeutet dies die Streichung eines der grössten Hilfsprogramme für syrische Flüchtlinge: Die amerikanische Organisation, die seit fünf Jahren in der Türkei tätig ist, unterstützt jeden Monat bis zu einer halben Million Syrer. Ein Grossteil der Hilfe kommt Vertriebenen in Nordsyrien zugute. Eines der Projekte stellt beispielsweise die Versorgung mit Brot sicher. Die Organisation kauft Mehl in der Türkei, das sie an nordsyrische Bäckereien liefert, die das daraus hergestellte Brot zu Minimalpreisen verkaufen. Ohne die Mehllieferungen müssten viele Bäcker schliessen.

Keine Begründung

Ausser in Syrien leistet die Organisation auch in der Türkei wichtige Hilfe für syrische Flüchtlinge. Neben Nothilfe umfassen die Programme soziale Dienstleistungen. So kümmert sich ein Gemeinschaftszentrum in der südtürkischen Stadt Gaziantep insbesondere um Frauen und Mädchen. Allein im vergangenen Jahr kam die in der Türkei geleistete Hilfe rund 100 000 Personen zugute. Einige dieser Programme werden von der EU finanziert, wie die Sprecherin von Mercy Corps, Christine Nyirjesy Bragale, gegenüber dieser Zeitung bestätigt.
Die Türkei zählt zu den Ländern, die Syrern in den letzten Jahren grosszügig die Türen geöffnet haben. Nach eigenen Angaben hat sie mehr als drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Ankara beklagte lange Zeit, von den Europäern dabei im Stich gelassen zu werden. Vor einem Jahr verpflichtete sich die EU schliesslich, der Türkei im Rahmen des Flüchtlingsabkommens bis Ende 2018 mit sechs Milliarden Euro unter die Arme zu greifen. Mit dem Geld werden Hilfsprogramme sowohl von Regierungsorganisationen als auch von der Uno und internationalen Nichtregierungsorganisationen unterstützt.
Warum Ankara die Registrierung von Mercy Corps widerrufen hat, ist unklar. „Uns wurde kein Grund mitgeteilt“, sagt Bragale. „Wir bemühen uns jedoch um ein Gespräch mit den türkischen Behörden. Wir möchten die Erlaubnis erhalten, unsere Tätigkeiten fortzusetzen.“ Die Regierung von Ministerpräsident Binali Yildirim hat sich zu der drastischen Entscheidung bisher nicht geäussert. Entsprechende Nachfragen dieser Zeitung blieben am Mittwoch unbeantwortet.
Regierungsnahe Blätter haben in jüngster Zeit schwere Vorwürfe gegen ausländische Hilfsorganisationen erhoben. Städte in der Südtürkei seien Oasen für ausländische Spione geworden, behauptete die Tageszeitung „Sabah“ Anfang der Woche. Internationale Hilfsorganisationen betrieben unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe Spionage und unterstützten Terroristen. Angeführt werde die Spitzeltätigkeit von deutschen und amerikanischen Organisationen. Eine von vierzehn fragwürdigen Hilfsorganisationen sei Mercy Corps, behauptete die Zeitung.

Üble Verdächtigungen

Sechs der Nichtregierungsorganisationen listete der Autor namentlich auf und beschuldigte sie, eine Milliarde Dollar getarnt als humanitäre Hilfe an die „syrische PKK“ gezahlt zu haben. Gemeint ist damit die Partei der Demokratischen Union (PYD), deren bewaffneter Arm, die YPG, Washington im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat unterstützt. Ankara betrachtet die beiden kurdischen Gruppierungen als Terrororganisationen.
Schon im November hatte ein anderes Sprachrohr der Regierung, die Zeitung „Yeni Safak“, ähnliche Anschuldigungen erhoben und behauptet, Mercy Corps und zwei weitere amerikanische Hilfsorganisationen lieferten Waffen in Hilfskonvois an den syrischen PKK-Ableger. Die Hilfe von Mercy Corps gehe vor allem in die von der PYD kontrollierte syrisch-türkische Grenzprovinz Afrin.
Die Vorwürfe seien der Organisation bekannt, sagt Bragale: „Sie sind falsch.“ Als humanitäre Organisation unterstütze Mercy Corps unparteiisch Zivilisten, egal wo diese lebten. „Wir sind voll von der Unparteilichkeit und Integrität unserer Tätigkeiten überzeugt, und wir sind stolz auf die breite Wirkung, die wir damit seit Beginn des Bürgerkriegs sowohl in Syrien wie in der Türkei erzielt haben.“
Ob weiteren ausländischen Organisationen das Ende droht, blieb am Mittwoch unklar. Ein Abgeordneter der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) forderte diese Woche unumwunden, die Regierung müsse die Vertretungen von deutschen Stiftungen in der Türkei schliessen. Wie schnell Ankara mit dem Vorwurf der Spionage oder Terrorunterstützung zur Hand ist, zeigt die Inhaftierung des Korrespondenten der „Welt“, Deniz Yücel. Unter ausländischen Helfern ist die Sorge gross, dass der Bannstrahl noch andere Organisationen treffen könnte.

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